Raumzeichnungen
ZEICHEN
RAUM I eine Zeichnung entsteht
vom 23.8. bis 3.9.2021
MONIKA BARTHOLOMÉ:
Am Samstag, dem 28.8.2021 hielt Dieter Mersch, Philosoph, www.dieter-mersch.de einen Vortrag für die Stiftung Zufall und Gestaltung mit dem Titel: Kunst, Spiel und Zufall, der mir stellenweise wie die Beschreibung meines Tuns erschien. Deshalb habe ich folgende drei Zitate aus diesem Vortrag ausgewählt:
„Der Mensch ist ein Anfänger“, hat Hannah Arendt geschrieben; ebenso fängt Kunst, fängt das Schauspiel oder die Schaustellung stets neu an, jede Situation ist anders und in jedem Augenblick liegt das Risiko des Versagens. Die Leichtigkeit des Spiels ist schwer errungen: das ist eines der wesentlichen Merkmale des Kunstmachens wie der Artistik selbst – und sie gilt für alle Künste, denn was wir an den waghalsigen Saltos und Pirouetten wie auch an rauschhaften Jazz-Improvisationen schätzen, ist eigentlich nicht, so möchte ich behaupten, das unwahrscheinliche Können der Darbietung selbst, sondern die auf der Bühne direkt und ungeschützt vollzogene Exposition oder Aussetzung, die buchstäblich jederzeit an ihrem eigenen Abgrund geschieht.“
Ich zeichne zwar nicht waghalsig vor euren Augen, aber dennoch fühlte ich mich wie eine Seiltänzerin. Was ihr seht, sind meine Spuren.
Am 23.7.2021 war der Raum, Claudias Mehrzweckhalle, mit den Papierbahnen ausgekleidet. Es sah schön jungfräulich aus, Pinsel, Tusche eine Leiter waren bereit. Nur mein Arm reichte nicht aus, um in vier Metern Höhe eine Linie von ganz oben nach unten zu ziehen. Claudia gab mir lange Stöcke, um die Pinsel daran zu befestigen. Einerseits verlängerte sich der Linienschwung durch die Verlängerung des Pinsels und ich wuchs weit über meinen Körperradius hinaus, was mir gefiel. Andererseits entstanden Linien, die mir in ihrer Qualität des Unkontrollierbaren, Unfertigen, Zarten zunächst fremd waren. Es ließ etwas in der Schwebe. Das konnte ich allmählich annehmen.
Es ist immer eine Herausforderung, die Linien zu setzen und ihr Entstehen geschehen zu lassen (mit den Augen der Hand zu folgen) und die Qualität, ihr Wesen nicht wirklich beeinflussen zu können. Das spielerische Ausprobieren und Entdeckungen machen gehört zu meinem Arbeiten. Was mir am ersten Tag noch relativ leicht fiel, wurde an den folgenden zur Herausforderung – jetzt nur keinen Fehler machen – wie schaffe ich es, auf dem Seil zu bleiben, wie halte ich die Balance? Der Tag der Eröffnung oder besser, des Zeigens stand bereits fest.
Jedes Voranschreiten ist ein Wagnis.
„Der zweite wichtige Punkt in Rilkes Kunsttheorie liegt in dem, was sich im Wortsinne als Zu-Fall und Ereignis beschreiben lässt: Zu- Fall, als das je Zu-Fallende, das Singuläre, zu der weniger die Aktivität des Übens und Wiederholens gehört, als ein spezifischer Sinn für die Passivität, die Hingabe an das, was unbeherrschbar oder unverfügbar bleibt. Beide Artistiken, die der Kunst und die der Schaustellenden, besitzen darin ihr Gemeinsames, dass sie auf das plötzliche Glücken, wie Rilke sagt, den Augenblick des Umspringens angewiesen sind, ein Umsprung, der – so meine These – mit der Aufgabe eines kontrollierenden Willens und dem Übergang zu einem primären Lassen korreliert. Er wird als „unsägliche Stelle“, als „Unbegreiflichkeit“ charakterisiert, was man wörtlich verstehen muss, denn der Augenblick des Umsprungs erweist sich als so wenig steuerbar, wie er ausdrückbar oder sagbar wäre. Hier versagen die Begründungen, der Diskurs – weshalb es eigentlich auch keine diskursiv ausbuchstabierte Theorie der Kunst geben kann, jedenfalls keine, die die Möglichkeit von Kunst erklärt oder ableitet, sondern stets nur ein fortlaufendes Tun.“
Zeichnungen auf kleinem Format entstehen in einem Durchgang, d.h. der Zustand, in dem ich mich befinde, entspricht der Energie einer Linie. Hier überlagern sich die unterschiedlichen Linienenergien der verschiedenen Tage zu einem Gewebe in dem Linien sich stützen, halten, abbrechen, sich vorwagen und aneinander vorbeilaufen ohne sich zu berühren und die „falschen“ Entscheidungen bleiben sichtbar.Zu erstem Mal habe ich auch den Boden einbezogen und die Unüberschaubarkeit und die Gefahr „abzustürzen“ nahm zu. Ich stand in diesen zwei Wochen zum ersten Mal mitten in einer Zeichnung, war von ihr umgeben und konnte sie nicht im Ganzen überblicken.
Für mich ist ihr Entstehungsprozess das Wesentliche. Die Frage, ob sie „fertig“ ist, kann ich zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht beantworten. Ich vermute, würde sich dieser Raum im Atelier in Köln befinden, würde ich weiterzeichnen, Schicht um Schicht, um am Ende, wie sich Claudia ausdrückte, in einer dunklen Kammer zu stehen.
Vielleicht ist gerade die Unvollkommenheit dieser Zeichnung eine Zustandsbeschreibung dieses Jahres und dieser Zeit.
„Ich kehre damit zu den eingangs genannten allgemeinen Charakteristika des Spiels zurück, nämlich dem Begehren, das, was ich nicht in der Hand habe, zu bewältigen, das Unbeherrschbare zu beherrschen, und der Rausch, die Transzendenz oder auch die Wiederholung verhilft mir dazu, indem ich mich ihm anverwandle, d.h. in gewisser Hinsicht die Unverfügbarkeit annehme, adaptiere, sie in mich introjiziere. Auch das ist eine Verlust-, eine Todesbewältigung, weil sie eins zu werden versucht mit dem, was mich bedroht.”

Wandzeichnungen 2018-2019
Das Horst Janssen Museum in Oldenburg besticht durch seine eigenwillige Architektur. Der Ausstellungsraum mißt 47 Meter in der Länge.
Um diese spezifische räumliche Ausdehnung zu betonen, habe ich einen Zacken auf die gebogene Wand gesetzt. Die 9 m langen und 2,5 m hohen Stellwänd habe ich mit musterartigen Motiven in roter Farbe bezeichnet.


